„Am Technikum hier ist leider keiner, der in der modernen Physik
auf der Höhe ist & ich habe schon alle ohne Erfolg angezapft.“
Albert Einstein in einem Brief an Mileva Maric, Mai 1901
AUSHILFSLEHRER AM TECHNIKUM WINTERTHUR
Durch seinen ehemaligen Kommilitonen Marcel Grossmann erfuhr Albert Einstein im April 1901, dass er wahrscheinlich eine Stelle am Berner Patentamt bekommen werde. Der Zeitpunkt einer möglichen Anstellung war aber noch unbestimmt. Um die Wartezeit zu überbrücken übernahm Einstein für zwei Monate die Vertretung von Professor Jakob Rebstein am Technikum in Winterthur. Rebstein, der für zwei Monate zum Militär musste, hatte im April 1901 bei Einstein angefragt ob er ihn nicht vertreten könne. Erfreut schrieb Einstein kurz darauf an Mileva Maric: „Du kannst Dir denken, wie gerne ich das thue!“
Vor seinem Dienstantritt verbrachte Einstein und Mileva Anfang Mai 1901 einige gemeinsame Ferientage in Como. Bald darauf erfuhr er auch von Milevas Schwangerschaft. Im Januar 1902 wurde Lieserl, ihre gemeinsame Tochter in Ungarn geboren. (Dass Einstein ein uneheliches Kind hatte, wurde erst vor einigen Jahren bekannt, nachdem private Briefe an die Öffentlichkeit gelangten, aus denen die Existenz des Kindes hervorgeht.)
Das Städtchen Winterthur liegt ca. 25 km nordöstlich von Zürich am Ausgang des oberen Tösstals und damit am Rande des Zürcher Oberlandes. Im Norden liegt das Weinland, das sich bis nach Schaffhausen erstreckt. 1901 lebten ca. 40.000 Menschen in Winterthur.
Am 8. Mai 1901 kam der 22jährige Einstein nach Winterthur und traf Dr. Rebstein, der ihn vor Ort über seine zukünftige Arbeit im Technikum informierte. Einige Tage später meldete sich Einstein bei der dortigen Einwohnerkontrolle. Als Beruf wurde „Lehrer Techn.- Aushülfe“ eingetragen. In Winterthur traf er Hans Wohlwend, einen ehemaligen Schulfreund von der Aargauer Kantonsschule und mietete sich bei dessen Wirtin in der Äußeren Schaffhauserstrasse 38 ein Zimmer. Über das Zimmer schrieb er am 9. Mai an Mileva: „Du machst Dir kaum eine Idee wie entzückend und sauber mein Zimmer ist! Ein großes Zimmer mit einem Doppelfenster, einer Veranda mit Glasthüre und freundlichster Aussicht, Parquetboden, einen Divan von unsagbarer Bequemlichkeit und schöne Teppiche, ein paar ganz nette Bildchen – kurz ein wahres Ideal.“
Zum gemeinsamen musizieren traf er sich häufig am Abend mit Hans Wohlwend. Manchmal auch mit einem „älteren Fräulein“. In einem Brief an Mileva berichtete er: „Gestern habe ich wieder bei dem älteren Fräulein musiziert. Es war ganz prachtvoll. Wenn Du da nur auch dabei sein könntest!“ Die Woche über schrieben sich Einstein und Mileva Briefe. An den Sonntagen trafen sie sich in Zürich. So schrieb der verliebte Einstein in einem seiner Briefe: „Das Schreiben ist dumm. Am Sonntag küss‘ ich Dich mündlich.“
Die Lehrtätigkeit Einsteins am Technikum begann am Donnerstag den 16. Mai 1901. Bei insgesamt 30 Stunden Unterricht in der Woche hatte er die Klassen 3 und 5 der Elektrotechniker in Mathematik und darstellender Geometrie zu unterrichten. Er empfand seine Lehrtätigkeit in Winterthur als Herausforderung.
Es gibt wenig gesicherte Informationen über Einsteins Lehrtätigkeit in Winterthur. So schreibt der Einstein Biograph Carl Seelig: „Gegen den rauhen, manchmal lümmelhaften Ton eines Teils der Zöglinge hatte er anfangs einen schweren Stand. Seine geistige Überlegenheit imponierte ihnen aber allmählich doch. Als einmal ein Schüler durch ständiges Hin- und Herrutschen des Stuhles seinen Mannesmut beweisen wollte, fragte ihn Einstein seelenruhig: Sind Sie es oder ist es der Stuhl, der einen solchen Lärm macht?“ Das von Seelig Geschriebene ist leider ohne Quellenangabe.
Anfang Juli, noch während seiner Zeit in Winterthur, bewarb sich Einstein erfolglos „für die vakante Lehrstelle in Mechanik und Festigkeitslehre am Technikum Burgdorf“ im Kanton Bern. Ende Juli bewarb er sich, ebenfalls erfolglos, an der Kantonsschule in Frauenfeld im Kanton Thurgau. Die Stelle in Frauenfeld erhielt sein Freund Marcel Grossmann, dem er in einem Brief Anfang September gratulierte: „Ich gratuliere Dir herzlich zu diesem Erfolg, der Dir eine hübsche Thätigkeit und eine gesicherte Zukunft bietet.“
Gegen Ende seiner Winterthurer Lehrtätigkeit schrieb er am 8. Juli in einem Brief an „Papa“ Jost Winteler: „Meine hiesige Thätigkeit hat mir ganz ungemein gefallen. Ich habe nie geahnt, daß ich eine solche Freude am Lehren haben würde, wie es thatsächlich der Fall war. Wenn ich am Morgen 5 oder 6 Stunden gegeben habe, bin ich noch ganz frisch und arbeite nachmittags in der Bibliothek an meiner Weiterbildung oder zuhause an interessanten Problemen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich mich in einer solchen Stelle befinden würde. Ich habe nämlich dem Ehrgeiz, an eine Hochschule zu kommen, vollständig entsagt, da ich sehe, daß mir auch so zu wissenschaftlichem Streben noch Kraft und Lust genug übrig bleibt.“ So fand er auch während seines 2monatigen Aufenthaltes in Winterthur immer wieder ausreichend Zeit wissenschaftlich zu arbeiten. Die Beschäftigung mit der theoretischen Physik war für den 22jährigen Einstein schon damals eine große Leidenschaft, die ein wesentlicher Bestandteil seines Lebens war.
Einsteins Winterthurer Lehrtätigkeit endete am Donnerstag den 11. Juli 1901.
Nach Abschluss seines Wirkens am Technikum Winterthur ging der junge Physiker nach Schaffhausen, wo er für ein paar Monate als Hauslehrer an einer Privatschule tätig war.
Das Technikum Winterthur ist heute Teil der School of Engineering der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Bildnachweis:
Schweizerisches Literaturarchiv (SLA), Bern: Abb.1
Archiv des Autors: Abb.2
Literaturnachweis:
Albrecht Fölsing | Albert Einstein. Eine Biographie | Frankfurt am Main 1993 |
Dr. Adolf W. Meichle | Albert Einstein am Technikum Winterthur | Bern 2014 |
Carl Seelig | Albert Einstein. Eine dokumentarische Biographie | Zürich 1954 |
Hrsg. John Stachel, David C. Cassidy, Robert Schulmann, Jürgen Renn, u. a. | The Collected Papers of Albert Einstein, Volume 1 | Princeton 1987 |